TODESFUGE

Schwarze Milch der Frühe
wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens
wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab
in den Lüften
da liegt man nicht eng

Ein Mann wohnt im Haus
der spielt mit den Schlangen
der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus
und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor
läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns
spielt nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe
wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags
wir trinken dich abends
wir trinken und trinken

Ein Mann wohnt im Haus
und spielt mit den Schlangen
der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete

Dein aschenes Haar Sulamith
wir schaufeln ein Grab in den Lüften
da liegt man nicht eng

Er ruft
stecht tiefer ins Erdreich
ihr einen
ihr anderen singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt
er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen
ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe
wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags
wir trinken dich abends
wir trinken und trinken

ein Mann wohnt im Haus
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod
der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft
streicht dunkler die Geigen
dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken
da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe
wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags
der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens
wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland
sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel
er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus
dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns
er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet
der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Paul Celan
* 23.11.1920, Czernowitz / Bukowina
† 20.04.1970, Paris

Paul Antschel (so der Familienname) wuchs in einer deutschsprachig-jüdischen Familie auf und zeigte früh große sprachliche Begabung und dichterische Interessen. 1938 begann er in Frankreich ein Medizinstudium, kam dort mit der surrealistischen Poesie in Kontakt, kehrte aber nach Czernowitz zurück, um Romanistik zu studieren. 1941 wurde die Stadt von deutschen und rumänischen Truppen besetzt, die ein jüdisches Ghetto einrichteten; die Eltern wurden 1942 deportiert und starben noch im selben Jahr. Celan selbst war bis 1944 in einem Arbeitslager, konnte dann aber sein Studium wieder aufnehmen und arbeitete in Bukarest als Lektor und Übersetzer. Nach einer Zwischenstation in Wien, wo es zu einer lang nachwirkenden Begegnung mit Ingeborg Bachmann kam, ging Celan nach Paris, wo er von 1959 an als Lektor für deutsche Sprache arbeitete. Neben seinem eigenen lyrischen Werk entstanden in dieser Zeit auch bedeutende Übersetzungen, z.B. von russischer Poesie.

Celans Lyrik kann formal als kontinuierliche Ablösung von neuromantisch-symbolistischen (Rilke) und surrealistischen Prägungen und als Suche nach einer ganz eigenständigen poetischen Sprache beschrieben werden, die durch radikale Reduktion (etwa im Syntaktischen) und bewußte Verletzung sprachlicher Konventionen eine ungeahnte semantische Vielschichtigkeit erreicht und den Leser/inn/en vielfältige Konnotationen anbietet. Dieser Prozeß kann durch insgesamt neun vom Autor selbst publizierte (oder zumindest noch zusammengestellte) Gedichtbände, von Der Sand aus den Urnen (1948) bis Schneepart (1971) verfolgt werden. Dabei ist besonders den späteren Texten der Vorwurf der Unverständlichkeit, dezenter: der Hermetik, nicht erspart geblieben; dagegen steht aber Celans energisches Beharren auf der appellativen, ja dialogischen Intention und Qualität seiner Dichtung - ausgeführt etwa in den poetologisch bedeutsamen Reden zum Bremer Literaturpreis (1958) und - unter dem Titel Der Meridian - zur Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis (1960).

Inhaltlich ist es das Trauma von Verfolgung und Verlust, die leidvolle Erfahrung der Nazi-Opfer, die sich durch alle so sorgsam komponierten Gedichtbände zieht. Auch davon spricht die Meridian-Rede recht ausdrücklich in der Chiffre vom "20. Jänner". Eine zugleich bestürzende und faszinierende, ja in gewisser Weise 'eingängige' Fassung erhielt diese Thematik in dem frühen Gedicht Todesfuge - man darf wohl annehmen, daß deren 'Erfolgsgeschichte' in deutschen Lesebüchern und Bundestagsfeierstunden Celan in der Absicht bestärkte, seine Texte widerständiger und spröder zu machen - was ihre Faszination keineswegs beeinträchtigen sollte. Die Frage des Philosophen Theodor W. Adorno, ob Lyrik nach Auschwitz noch legitim sein könne, hat Celan durch seine Gedichte nach (und über) Auschwitz faktisch beantwortet.
Aber er bekräftigt sie auch seinerseits, wenn er schreibt: "Welches der Worte du sprichst -/ du dankst/ dem Verderben." (1955). Daß sich Celan als Nazi-Opfer dichterisch für die Sprache der (deutschen) Mörder entschied, erscheint zunächst als Paradox - und erweist sich als unverdienter Glücksfall für die deutsche Literatur. Denn in dieser Sprache gelingt es Celan, nicht nur die antagonistischen Aspekte deutscher Tradition 'engzuführen', sondern auch den Assoziationsraum der europäischen Moderne und schließlich die (ost-)jüdische bzw. hebräische Überlieferung anklingen zu lassen. Die schönsten Textbeispiele dafür bieten vielleicht die Gedichtbände Die Niemandsrose (1963) und Atemwende (1967).

Problematisch war und blieb, trotz früher Auszeichnungen, Celans Verhältnis zur (bundes-)deutschen Öffentlichkeit. Unter den Kriegsheimkehrern in der frühen "Gruppe 47" stieß der jüdische Exhäftling und Exilant auf Unverständnis und Ablehnung. Später schärfte ein bösartiger und völlig unbegründeter Plagiatsvorwurf, den die Dichterwitwe Claire Goll inszenierte, für weitere Verletzungen und das Gefühl, antisemitischem Ressentiment ausgesetzt zu sein. Man darf vermuten, daß dies alles Celans depressive Disposition verstärkt und zu seinem mutmaßlichen Freitod in der Seine beigetragen hat. - Drei Jahrzehnte später wird Paul Celan unbestritten zu den größten deutschsprachigen Lyrikern des katastrophischen 20. Jahrhunderts gerechnet.

Quelle: J. Vogt: Treffpunkt im Unendlichen? Über Peter Weiss und Paul Celan, in: Peter Weiss-Jahrbuch 4 , Opladen 1995

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